Politische Online-Aktivitäten von Geflüchteten

Politische Online-Aktivitäten von Geflüchteten

Gerade erschien mein neuester Aufsatz, den ich gemeinsam mit Maria Becker und Sonja Haug unter dem Titel „Online Political Participation of Refugees“ bei SAGE Open veröffentlichte. Hier möchte ich auf die zentralen Ergebnisse eingehen und darlegen, weshalb das Internet ein wichtiges Tool für prekarisierte Bevölkerungsgruppen wie Geflüchtete ist, um schnell und öffentlichkeitswirksam auf Missstände hinzuweisen. Dabei darf der Impact, der durch diese Aktivitäten erzielt wird, weder über- noch unterschätzt werden.

On- und offline politische Partizipation

Politische Partizipation wird zumeist mit institutionalisierten Aktivitäten gleichgesetzt: Wählen gehen, in einer Partei mitarbeiten oder eine Bürgerinitiative gründen. Viele politische Aktivitäten sind aber viel spontaner und daher oft außerhalb der typischen politischen Institutionen angesiedelt. Dazu zählen beispielsweise Demonstrationen, Protestschreiben oder guerilla gardening. In der Partizipationsforschung wird diskutiert, inwieweit die Definition politischer Partizipation immer weiter ausgedehnt wurde (bzw. wird), sodass letztlich alles unter dem Konzept gefasst werden kann, solange die betreffende Handlung sich in der Sphäre des Politischen positioniert (van Deth 2014). Diese Diskussion greifen wir in Bezug auf die Nutzung des Internets für politische Zwecke auf. Häufig sind die dortigen Aktivitäten ein digitales Spiegelbild von analogen Tätigkeiten oder on- und offline Aktivitäten ergänzen sich gegenseitig in einer Form von blended participation (Kersting 2013; Vaccari & Valeriani 2018). Trotzdem besteht eine breite Forschungsdiskussion darüber, ob und welche Onlineaktivitäten als politische Partizipation gewertet werden können. Tatsächlich ist diese Frage nicht trivial: Politische Meinungsäußerungen im persönlichen Umfeld überschreiten anders als bei Demonstrationen nicht die Schwelle zur Partizpationshandlung, da keine größere Offentlichkeit adressiert wird. Diese Abgrenzung ist bei der Meinungsäußerung im Internet (beispielsweise über Social Media und Blogs) nicht eindeutig möglich, da zumindest potenziell eine große Verbreitung erreicht werden kann. Weniger strittig ist der Fall bei politischer Information: Sich über Politik im Internet zu informieren unterscheidet sich nicht grundlegend von anderen Wissensressourcen. Nach Abwägung der verschiedenen in der Literatur vertretenen Positionen definieren wir politische Meinungsäußerungen im Internet als eine Form von politischer Partizipation wohingegen wir politische Information im Internet als einen zentralen Einflussfaktor auf die eigentliche Partizipationshandlung konzeptualisieren.

Das Internet bietet gerade prekarisierten Bevölkerungsgruppen Chancen für die Adressierung des politischen Willensbildungsprozesses, da hierfür nur wenig materielle wie immaterielle Ressourcen benötigt werden. Entsprechend ist es wenig überraschend, dass auch Geflüchtete vielfach Blogs betreiben oder sich im Internet zu politischen Inhalten äußern. Besonders bei Adressierung von politischen Prozessen im Ausland beispielweise im Herkunftsland bietet sich das Internet an, da keine physische Anwesenheit benötigt wird. Jedoch sollte der Einfluss dieser Aktivitäten nicht überschätzt werden. Auch wenn sie als Sprachrohr genutzt werden, so sind die Möglichkeiten der Dissemination deutlich kleiner als bei Personen und Institutionen mit höherer Ressourcenausstattung und größeren Netzwerken. Die Vorteile, die das Internet bietet, können nicht die bestehende soziale Ungleichheit in Bezug auf politische Partizipation ausgleichen. Sie können sie höchstens abmildern. Während bei der politischen Information eine mehr oder weniger klare Zuordnung zu einem örtlichen Kontext möglich ist, ist dies bei politischen Meinungsäußerungen nicht der Fall. Wenn Geflüchtete die Situation in ihren Herkunftsländern anprangern können damit verschiedene politische Kontexte addressiert werden. Daher unterscheiden wir bei politischer Information den örtlichen Kontext, jedoch nicht bei politischen Äußerungen im Internet.

Theoretischer Hintergrund

Für den Artikel untersuchten wir die Nutzung des Internets für politische Partizipation von Geflüchteten näher. Zum einen identifizierten wir Einflussfaktoren, die sich auf die Nutzung des Internets auswirken. Diese werden unter dem Stichwort des digital divide verhandelt (Alam & Imran 2015; Alencar 2018; Elliot & Earl 2018; Emmer et al. 2016; Tonassi et al. 2020). Zum anderen arbeiteten wir Einflussfaktoren auf politische Handlungen heraus. Dabei beziehen wir uns auf das Civic Voluntarism Model (Verba et al. 1995), das Ressourcen, Involvierung und Netzwerke für die Erklärung politischer Partizipation nutzt und verknüpften dieses mit der etablierten Forschung zur politischen Partizipation im Migrations- (Mays et al. 2019; Schmidbauer & Haug 2023) und Fluchtkontext (Haug & Schmidbauer 2023; Ragab & Antara 2018).

Methodisches Vorgehen

Die Daten für die Analyse entstammen einer Befragung von 486 Geflüchteten in Bayern im Rahmen meines Promotionsprojektes zu Demokratiebildern und Partizipation von Geflüchteten (DePaGe). Die Datenerhebung erfolgte 2019/2020 im Rahmen des Forschungsverbunds ForDemocracy, gefördert durch das bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst.

Aufbauend auf eine Schätzung fehlender Werte mittels multipler Imputation berechneten wir linear probability regression models (LPM) für die Nutzung des Internets für die politische Information zu Vorgängen in Deutschland und im Herkunftsland, sowie für politische Meinungsäußerungen.

Ergebnisse

Fast alle Befragten nutzen das Internet. Jedoch ist das Ausmaß der Nutzung über das Lebensalter, nach Geschlecht und nach Bildung sehr unterschiedlich verteilt. So zeigt sich anhand der Daten, dass Jüngere, Männer und formal Höhergebildete das Internet häufiger nutzen.

Die Fragen zur Nutzung des Internets für politische Zwecke wurden – wie alle Fragen zu politischen Inhalten – häufig nicht beantwortet. Etwa ein Viertel bis ein Drittel gaben keine Antwort. Von den Befragten mit gültigen Antworten gaben etwas mehr als ein Drittel an, sich weder über politische Vorgänge in Deutschland noch über die im Herkunftsland zu informieren. Etwa derselbe Anteil tut dies für beide Kontexte. Die übrigen informieren sich zumeist nur in Bezug auf das Herkunftsland. In Bezug auf politische Partizipation zeigen die Daten, dass etwa ein Viertel das Internet für politische Meinungsäußerung nutzen.

Die LPM zeigen, dass soziodemografische (Alter und Geschlecht) und Ressourcenvariablen (Sprachkenntnisse, formale Bildung, Aufenthaltsdauer als Proxy der Integration und die Häufigkeit der Internetnutzung als Proxy der Medienkompetenz) nur wenig aufklären können, wer das Internet für politische Zwecke nutzt. Lediglich Männer scheinen häufiger aktiv zu werden. Von den politische Involvierungsvariablen weisen bei gegenseitiger Berücksichtigung fast alle berücksichten Variablen einen signifikanten Effekt auf: interne politische Wirksamkeit (die Selbstwahrnehmung, sich kompetent in der politischen Sphäre bewegen zu können), politisches Interesse und offline politische Partizipation in Deutschland (hier gemessen anhand der Teilnahme an Demonstrationen). Lediglich die offline Partizipation im Ausland zeigt unter Berücksichtigung der übrigen Variablen keinen signifikanten Effekt auf. Werden nur die beiden Variablen zur politischen Information im Internet gemeinsam berücksichtigt, ist ebenfalls ausschließlich die Information über politische Vorgänge in Deutschland signifikant. Bei gemeinsamer Berücksichtigung aller Teilmodelle sind es nur drei Variablen, deren Effekte das gewählte Signifikanzniveau überschreiten: Politisches Interesse, politische Information in Bezug auf politische Vorgänge in Deutschland und die Teilnahme an Demonstrationen in Deutschland.

Fazit

Das Internet nimmt einen zentralen Stellenwert im Leben von Geflüchteten ein. Dieses ist nicht nur eine zentrale Ressource für die Orientierung in Deutschland sondern auch und insbesondere für den Kontakt zu Familie und Freunden. Auch für politische Zwecke wird das Internet genutzt. Die Vermutung liegt nahe, dass die Meinungsäußerung insbesondere in Bezug auf Deutschland erfolgt, da es eine enge Verbindung zu politischer Information über politische Vorgänge in Deutschland und politische Aktivität in Deutschland gibt. Wie bereits einleitend herausgearbeitet, werden dabei aber nicht zwingend politische Vorgänge in Deutschland addressiert. Vielmehr ist wahrscheinlicher, dass politische Akteur*innen in Deutschland addressiert werden, dass diese sich mit der humanitären Situation in den Herkuntsländern beschäftigen und sich für eine Besserung einsetzen. Dies würde auch erklären, weshalb sich nur deutsche Sprachkenntnisse signifikant positiv auf die politische Meinungsäußerung im Internet auswirken.

Literatur

Alam, K., & Imran, S. (2015) The digital divide and social inclusion among refugee migrants. In: Information Technology and People, 28(2), 344–365. https://doi.org/10.1108/itp-04-2014-0083

Alencar, A. (2018). Refugee integration and social media: A local and experiential perspective. In: Information Communication & Society, 21(11), 1588–1603. https://doi.org/10.1080/1369118x.2017.1340500

Elliott, T., & Earl, J. (2018). Online protest participation and the digital divide: Modeling the effect of the digital divide on online petition-signing. In: New Media & Society, 20(2), 698–719. https://doi.org/10.1177/1461444816669159

Emmer, M., Richter, C., & Kunst, M. (2016). Flucht 2.0: Mediennutzung durch Flüchtlinge vor, während und nach der Flucht. Freie Universität.

Haug, S. & Schmidbauer, S. (2023). Politische Partizipation von Geflüchteten. In: J. Sommer: Kursbuch Bürgerbeteiligung #5. Republik-Verlag

Kersting, N. (2013). Online participation: From ‘invited’ to ‘invented’ spaces. In: International Journal of Electronic Governance 6(4), 270. https://doi.org/10.1504/IJEG.2013.060650

Mays, A., Rosebrock, A., Hambauer, V., & Kühnel, S. (2019). Determinanten des politischen Engagements von MigrantInnen in Deutschland. In: Soziale Welt, 70(1), 60–92. https://doi.org/10.5771/0038-6073-2019-1-60

Ragab, N. J., & Antara, L. (2018). Political participation of refugees: The case of Afghan and Syrian refugees in Germany. International Institute for Democracy and Electoral Assistance (International IDEA). https://doi.org/10.31752/idea.2018.14

Schmidbauer, S., & Haug, S. (2023). Politische Partizipation im Kontext von migrationsbedingter Diversita¨ t. In: M. Mittertrainer, K. Oldemeier, & B. Thiessen: Diversität und Diskriminierung.
Analysen und Konzepte. (pp. 199–216). Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40316-4_12

Vaccari, C., & Valeriani, A. (2018). Digital political talk and political participation: Comparing established and third wave democracies. In: Sage Open, 8(2). https://doi.org/10.1177/2158244018784986

van Deth, J. W. (2014). A conceptual map of political participation. In: Acta Politica 49, 349–367. doi:10.1057/ap.2014.6

Verba, S., Schlozman, K. L., & Brady, H. E. (1995). Voice and equality: Civic voluntarism in American politics. Harvard University Press.